Klettern mit MS

Angelika Wagner will hoch hinaus

Klettern mit MS – Angelika Wagner will hoch hinaus (© Angelika Wagner)

Seit mehr als 10 Jahren lebt Angelika Wagner, gelernte Krankenschwester aus Trier, mit Multipler Sklerose. Ein sportliches Erlebnis der besonderen Art hat sie sehr beeindruckt: Klettern zusammen mit einer Gruppe von MS-Betroffenen an einer 17 Meter hohen Indoor-Wand.
Die Konzentration auf den richtigen Griff und Schritt, die Frage "Wer fängt mich auf?", der stete Blick auf den Weg als Ziel und letztendlich die Freude und der Stolz über das Erfolgserlebnis, oben angekommen zu sein – alle diese Empfindungen haben sie zum Nachdenken angeregt.
Was ihr durch den Kopf ging, schildert sie in dem folgenden Interview.

17 Meter hoch in einer Wand zu hängen, ist selbst für Nicht-MS-Betroffene "nicht ohne". Hatten Sie denn Höhenangst?

Nein, Höhenangst habe ich nicht. Im Sommer gehen wir gern in die Berge – und Klettern ist in diesem Sinne nichts Neues für mich. Klar, es gibt die typischen Gänsehaut-Situationen: z. B. vor der Wand zu stehen und hochzuschauen. Oder wenn man schliesslich oben angekommen ist und hinuntersieht… Das ist schon aufregend, aber Höhenangst hatte ich noch nie.

Wenn ich in der Wand hänge, denke ich immer: "Ich bin auf dem Weg nach oben. Ich schaue nicht zurück, nicht nach unten und nicht nach vorn, nicht nach oben. Ich konzentriere mich einzig und allein auf den Augenblick. Nur das Hier und Jetzt ist wichtig und die Frage, wo ich den nächsten Fuss hinsetze oder wo meine Hand den nächsten Halt findet. Nur das zählt. Sonst stürze ich ab."

Hinsichtlich der MS lautet Ihre Devise: "Noch bin ich der Chef, noch sage ich, was gemacht wird." Und wie ist das in der Kletterwand? Haben Sie dort alles im Griff?

Buchstäblich – ja! Ich habe immer ein gutes Gefühl, weil ich vertraue – in mich selbst, in die Trainerin, die eine professionelle Kletterfrau ist und mir die richtigen Techniken und Tricks gezeigt hat – und in jeden, der mir Halt und Unterstützung gibt. Im Leben mit MS gibt es viele Situationen, in denen man auf Hilfe angewiesen ist. Dann ist es umso wichtiger, zu vertrauen und sich auf den anderen verlassen zu können. Dasselbe gilt fürs Klettern: Ich vertraue darauf, dass mich jemand sichert und auffängt. Und ich glaube an mich selbst. So schaffe ich es Stück für Stück nach oben. Konzentriert auf jeden einzelnen nächsten Griff und Tritt. Und plötzlich bin ich oben, habe mein Ziel erreicht, ohne mir darüber bewusst zu sein, was für eine grosse Strecke ich schon zurückgelegt habe oder wie lange ich in der Wand war. Der Weg ist das Ziel. Genauso ergibt dieser Satz einen Sinn für mich – auch im Alltag mit der MS.

Wer sichert oder fängt Sie denn im Alltag auf?

Meine Familie – mein Ehemann und meine beiden Kinder. Und der Freundeskreis natürlich.

Ihre Gedanken über das erlebte Kletter-Ereignis könnten von einem Motivations-Coach stammen: "Nicht zurückschauen, auf den Augenblick konzentrieren, auf das Hier und Jetzt und jeden einzelnen Schritt." Gestalten Sie so auch Ihren Alltag?

Natürlich stand ich nach der Diagnose erst einmal unter Schock. Zu verarbeiten, dass ich von MS betroffen bin, hat schon ziemlich lange gedauert. Aber mittlerweile verstehe ich, damit zu leben. Und dabei hilft mir ganz klar meine neue Einstellung mit dem steten Blick nach vorn. Obwohl ich lernen musste, dass die besten Bewältigungsstrategien scheitern, wenn man sie am meisten braucht. Allerdings habe ich in diesen Momenten immer versucht, mich selbst nicht noch mehr herunterzuziehen. Denn ereilt einen der Schub, kann man sowieso nichts machen. Dann heisst es einfach: "Augen zu und durch!". So gehen diese Situationen auch schneller vorbei.

Was bedeutet es für Sie, nach vorne zu schauen?

Immer ein Ziel vor Augen zu haben. Aber nicht in dem Sinne, dass ich unbedingt noch dies und das erreichen will. Vielmehr geht es mir darum, den einzelnen Augenblick nicht zu verpassen, weil meine Gedanken zu sehr um die MS kreisen. Auf diese Art haben mir Ängste über die Zukunft schon so manchen schönen Augenblick zerstört. Und das möchte ich so weit es geht vermeiden. Dabei versuche ich, mein Leben mit der MS zu leben: Schritt für Schritt – wie beim Klettern – Griff für Griff. Ich schaue nicht zurück, denn was vorbei ist, ist vorbei.

Und wenn der direkte Weg mal versperrt ist oder in eine Sackgasse führt?

Das Wort "Sackgasse" sollte man am besten aus seinem Vokabular streichen. Schlechte Phasen gehören nun mal zur MS. Natürlich ist die Diagnose zunächst ein Schock. Den soll und darf man sich auch zugestehen. Langfristig darf man sich damit aber nicht den Weg versperren. Zurückgehen und eine neue Strasse finden. Damit meine ich, dass MS auch bedeutet, sich von vielen Dingen zu verabschieden, loszulassen. Dazu gehört auch ein Stück "Trauerarbeit" – das ist ganz normal. Denn erst in dem Moment, wenn ich loslasse, mich von Dingen verabschiede, kann ich erst erkennen, wie es weitergeht. Also: Es gibt keine Sackgasse – es geht immer weiter!

Und was haben Sie als Nächstes vor?

Welche Route, welches Ziel wollen Sie noch erreichen? Am liebsten würde ich alle zwei Jahre etwas Besonderes erleben. Letztes Jahr waren wir zum Beispiel mit der Familie auf den Malediven und in Kanada. Nächstes Jahr ist unser Ziel Namibia. Darauf freue ich mich sehr.

Worauf sollte man achten, wenn man als MS-Betroffener ähnliche Aktivitäten unternehmen möchte wie Sie?

Ganz wichtig ist es, auf seinen eigenen Körper zu hören und sich nicht zu überfordern. Der Körper weiss ganz genau, was er kann und was nicht. Und er sendet die entsprechenden Signale. Diese sollte man in jedem Fall ernst nehmen. Die MS lehrt einen schon, die eigenen Grenzen, die man unweigerlich erfährt, zu akzeptieren.

Wie sind Sie mit der Diagnose umgegangen und was hat Ihnen geholfen, sie besser zu akzeptieren?

Es ist nicht immer einfach, aber: Es geht! Was für mich in meinem Leben mit MS ganz wichtig ist, ist die sportliche Betätigung, also die regelmässige Bewegung. Sie hilft mir dabei, meinen Körper in den mir gesetzten Grenzen fit zu halten. Im Winter laufe ich Ski, im Sommer gehe ich schwimmen oder Rad fahren. So oft es in meinen Alltag passt, mache ich Kraft- und Ausdauertraining. Das hilft mir, die Phasen zu überwinden, in denen die MS die Kontrolle über meinen Körper übernimmt, z. B. während eines Schubs. Mit dem Sport kann ich mir diese Kontrolle zurückholen.

Haben Sie eine Lebenseinstellung, ein Lebensmotto, das Ihnen durch schwere Schub-Zeiten hilft?

Der Weg ist das Ziel.

Liebe Frau Wagner, wir danken Ihnen für das Gespräch!



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