Die Geschichte der Multiplen Sklerose

Vom Mittelalter bis heute

Die MS ist erst seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Symptome, die aus heutiger Sicht für eine MS sprechen, konnten in früheren Jahrhunderten nicht entsprechend gedeutet werden. Im 20. Jahrhundert brachte dann die moderne Diagnostik und die Entwicklung neuer Medikamente grosse Fortschritte in der Behandlung der Multiplen Sklerose.

MS im Mittelalter

Schon im Mittelalter litten Menschen unter MS, so die Meinung heutiger Wissenschaftler. Der Holländer Jan van Beieren beschreibt im Jahr 1421 Symptome bei der Nonne Lydwina von Schiedam, die für die MS typisch sind. Ob die MS bereits in noch früheren Zeiten aufgetreten ist, wird wohl nie geklärt werden können.

19. Jahrhundert – Erste Erforschung der MS

Die wesentlichen Fortschritte in der Beschreibung und Eingrenzung der MS wurden im 19. Jahrhundert erzielt. Zu dieser Zeit begannen mehrere Wissenschaftler mit der Erforschung.

Heute gilt der Pariser Neurologe Jean-Martin Charcot als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der MS-Forschung. Durch die exakten und umfassenden Beschreibungen seiner Erkenntnisse brachte er das Wissen um die MS entscheidend voran. So verfasste er im Jahr 1868 die erste komplette Abhandlung über die Multiple Sklerose und stellte den Zusammenhang mit den Pathologiebefunden her. Er war es auch, der erstmals den Ausdruck "Sclerose en plaques" verwendete.

Charcots Erkenntnisse finden sich noch heute im klinischen Sprachgebrauch, beispielsweise als "Charcot-Trias", der Kombination von Nystagmus (= rhythmisches Augenzittern), Intentionstremor (= Händezittern bei Bewegungen) und skandierender (abgehackter) Sprache als diagnostischen Hinweis auf eine MS.

In den folgenden Jahrzehnten machte die Wissenschaft in der MS-Forschung weitere Fortschritte:

20. Jahrhundert – Durchbruch in der MS-Forschung

Bücherstapel und ein aufgeschlagenes BuchIn den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren viele Aspekte der MS bereits bekannt. Es fehlte jedoch noch eine systematische Ordnung der Erkenntnisse. Diese Aufgabe übernahm Walter Russell Brain. Im Jahr 1930 ordnete er systematisch die bisherigen Hypothesen zu Ursachen, Pathologie sowie Auftreten und Verlauf der MS und veröffentlichte seine erste grössere Abhandlung zur "disseminierten Sklerose". Kontinuierlich bis zu seinem Tod im Jahr 1966 fasste Brain den erweiterten Wissensstand zusammen und veröffentlichte diesen in jeweils aktualisierten Auflagen seines Lehrbuchs "Diseases of the Nervous System" (Krankheiten des Nervensystems).

Im Jahr 1944 erkannte der Harvard-Professor Derek Denny-Brown, welche neuronalen Strukturen für die neurologischen Ausfälle bei der MS verantwortlich sind. In Experimenten konnte er zeigen, dass eine beschädigte Nervenfaser den elektrischen Impuls nicht mehr an den entsprechenden Muskel weiterleiten kann. Daraus liess sich ableiten, dass die Demyelinisierung eines Nervs für die Leitungsblockade verantwortlich ist. Unter Demyelinisierung versteht man die Schädigung sowie den Verlust von Myelin (die Substanz, die Nervenfasern schützt und isoliert). Somit war ein weiteres Rätsel der MS gelöst.

Moderne MS-Diagnostik

In den folgenden Jahren konnten auch in der MS-Diagnostik bedeutende Fortschritte erzielt werden. So wurden in den 60er- und 70er Jahren spezielle Liquortests entwickelt: Bei der Gel-Elektrophorese wandern die auf ein aktives Immunsystem hinweisenden Immunglobuline (Antikörper) in Abhängigkeit von ihrer elektrischen Ladung oder Grösse in einem elektrischen Feld unterschiedlich schnell bzw. weit. Somit findet man bei aktiven Immunprozessen charakteristische Muster (oligoklonale Banden).

Ebenfalls in den 70er Jahren hielt die Computertomographie (CT) Einzug in die MS-Diagnostik und die Verlaufsbeurteilung. Im Jahre 1972 führten Halliday und Mitarbeiter die elektrophysiologische Methode der visuell evozierten Potenziale (VEP) zur nicht-invasiven Untersuchung des Sehnervs und der Sehbahn sowie zur nichtinvasiven diagnostischen Untersuchung ein.

Ein echter Durchbruch konnte 1981 durch die Arbeit von Ian Young und dem Einsatz der Kernspintomographie (MRT) erzielt werden. Durch die deutliche Darstellung von MS-Herden auf hochauflösenden Aufnahmen wurde die Diagnostik früher MS-Stadien verbessert und eine exaktere Verlaufsbeurteilung möglich.

Einführung der Basistherapie

Die 90er Jahre brachten mit der Einführung neuer Medikamente Fortschritte in der Therapie der MS. Erstmals wurden 1993 in den USA Beta-Interferone für die MS-Therapie zugelassen, in der Schweiz erfolgte die Einführung 1996. Drei Jahre nach Zulassung des ersten Interferons erhielt Glatirameracetat ebenfalls die Zulassung zur Behandlung der MS in den USA und im Jahre 1999 auch in der Schweiz.

Um den neuen medikamentösen Entwicklungen Rechnung zu tragen, gab die mit Experten besetzte "Multiple Sklerose Therapie Konsensus Gruppe" (MSTKG) 1999 für die deutschsprachigen Länder erstmals Therapieempfehlungen heraus. Sie erlauben u. a. anhand eines Eskalationsschemas ein hierarchisch geordnetes therapeutisches Vorgehen. Es folgten regelmässige Aktualisierungen.

Die McDonald-Kriterien

Stromkabel ohne HülleEine internationale Expertengruppe um Ian McDonald erarbeitete zur Diagnose der MS ein neues Schema und veröffentlichte dieses 2001. Gestützt auf den objektiven Nachweis einer räumlichen und zeitlichen Ausbreitung (Dissemination) nach klinischen und MRT-Befunden sollen die sogenannten McDonald-Kriterien die Zuverlässigkeit der MS-Diagnose erhöhen. Sie gestatten unter Berücksichtigung von Labor- und MRT-Befunden die MS-Diagnose bereits nach dem ersten klinischen Schub und eröffnen so die Möglichkeiten eines noch früheren Therapiebeginns.

Intensive Forschungsbemühungen in den letzten Jahren liefern auch immer mehr Erkenntnisse, z. B. über die den MS-Prozessen zugrunde liegenden Mechanismen. So wurde herausgefunden, dass es bei der MS nicht nur zu einem Verlust der Myelinscheiden allein kommt. Ausserdem schreiten Schädigungen oder sogar Verluste der Nervenfasern (Axone) über Jahre schleichend fort – auch während der schubfreien Zeiten. Sichtbar werden diese Axonschäden dann erst, wenn bleibende körperliche oder geistige Behinderungen mit entsprechenden Beeinträchtigungen der Lebensqualität entstanden sind.

21. Jahrhundert – Aufbruch in eine aktive Zukunft

In den vergangenen Jahren wurde eine zunehmende Anzahl von MS-Behandlungen mit unterschiedlichen Wirkungsmechanismen entwickelt. Bei den Basistherapien sollen die Verabreichung, die Verträglichkeit und der Behandlungskomfort für den Betroffenen verbessert werden. Weiterführende Informationen zu aktuellen Medikamenten finden Sie auf der Homepage der Schweizerischen Multiple Sklerose: https://www.multiplesklerose.ch/de/

Die subjektive Lebensqualität der Menschen mit MS rückt immer mehr in den Mittelpunkt des ärztlichen Interesses, und auch den kognitiven Beeinträchtigungen der Betroffenen wird vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt.

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